5. Mose 23,25–26 (Lutherbibel 2017):
„Wenn du in den Weinberg deines Nächsten kommst, so magst du Trauben essen, so viel du willst, bis du satt bist; aber du sollst nichts in dein Gefäß tun. Wenn du in das Kornfeld deines Nächsten kommst, so darfst du Ähren mit der Hand abpflücken; aber die Sichel sollst du nicht an das Kornfeld deines Nächsten legen.“
Aber bedeutet das, dass ich einfach in den Acker meines Nachbarn gehen, Früchte essen und wieder gehen darf – solange ich nichts mitnehme?
Antwort:
Um diese Bibelstelle richtig zu verstehen, ist es wichtig, ihren kulturellen und theologischen Zusammenhang zu kennen. Diese Anweisungen wurden dem Volk Israel im Rahmen des mosaischen Gesetzes gegeben. Dieses Gesetz regelte nicht nur religiöse Praktiken, sondern auch soziale Gerechtigkeit und das Zusammenleben in der Gemeinschaft (siehe 3. Mose 19,9–10, wo Gott befiehlt, bei der Ernte Reste für die Armen und Fremden übrig zu lassen).
Die Erlaubnis, im Weinberg oder Feld eines Nachbarn zu essen, war ein Ausdruck von Gottes Mitgefühl und Fürsorge für Bedürftige. Es war nie als Freibrief für eigennütziges Verhalten gedacht, sondern als Hilfe für Hungrige und Menschen ohne Ressourcen – ein Spiegel von Gottes Herz für die Schwachen und Ausgegrenzten:
Psalm 146,7–9:
„Er schafft Recht denen, die Gewalt leiden, gibt den Hungrigen Brot. Der HERR macht die Gefangenen frei. Der HERR macht die Blinden sehend. Der HERR richtet die Niedergeschlagenen auf. Der HERR liebt die Gerechten. Der HERR behütet die Fremdlinge und erhält Waisen und Witwen.“
Jesaja 58,6–7:
„Das ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: … den Hungrigen dein Brot brechen, und die im Elend ohne Obdach sind, ins Haus führen; wenn du einen nackt siehst, ihn kleiden und dich deinem eigenen Fleisch nicht entziehen.“
Das Essen „bis man satt ist“, ohne etwas mitzunehmen, sollte den akuten Hunger stillen, dabei aber die Lebensgrundlage des Besitzers nicht gefährden. Dieses Gleichgewicht entspricht dem biblischen Prinzip von Gerechtigkeit, die von Barmherzigkeit begleitet wird:
Micha 6,8:
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“
Es ist wichtig zu verstehen, dass dieses Gebot an das Volk Israel gegeben wurde – eine Gemeinschaft, die durch den Bund Gottes verbunden war und gemeinsame Werte teilte. In diesem Zusammenhang war diese Geste der Barmherzigkeit ein Teil der gelebten Bundesverantwortung:
2. Mose 23,10–11:
„Sechs Jahre sollst du dein Land besäen und seine Früchte einsammeln; im siebenten Jahr aber sollst du es ruhen und brach liegen lassen, damit die Armen unter deinem Volk davon essen…“
Für uns heute – besonders in einer vielfältigen Gesellschaft mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Rechtsordnungen – gilt das Prinzip weiterhin: Mitgefühl zeigen und Bedürftigen helfen ist wichtig, aber immer respektvoll und mit Erlaubnis. Ein Grundstück ohne Zustimmung zu betreten, selbst mit guten Absichten, kann zu Missverständnissen oder Konflikten führen.
Aus theologischer Sicht verweist diese Stelle auf ein größeres Thema: Gottes Versorgung und Fürsorge für die Bedürftigen, wie sie Jesus im Neuen Testament weiter entfaltet:
Matthäus 25,35–40:
„Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben… Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Fazit: Die Bibel erlaubt es in bestimmten Fällen, von fremdem Land zu essen – aber immer im Rahmen von Respekt, Gemeinschaftssinn und Barmherzigkeit. In der Praxis ist es weise, vorher um Erlaubnis zu bitten. Wird diese verweigert, sollte man nach einer anderen Lösung suchen, die niemanden verletzt oder übergeht.
Sei gesegnet.
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